Erste Primeurmiszellen

Wie in jedem Jahr waren die Eindrücke während der Primeurwoche in Bordeaux so überwältigend, dass es eines Moments der Ruhe bedarf, die Erlebnisse so zu ordnen, dass ein sinnvolles Ganzes daraus wird.

Seitdem quasi jeder Verkoster ein Herrscher über die Echtzeit ist, weil die Technik Informationen demokratisiert, gibt es deutliche Tendenzen der vorauseilenden Urteilsüberflutung.

Es wäre jedenfalls verwunderlich, wenn es sich beim Jahrgang 2011 um ein Pomerol-Jahr handeln sollte, weil doch gerade hier die dominante Rebsorte Merlot ist und die aktuelle Ernte nach dem Urteil keines Geringeren als von Château Petrus „definitely not a merlot year“ ist. So viel Chuzpe kann sich nur der erlauben, der seine Schwächen nicht zu verbergen sucht, sondern sie gerade im Sinne des eigenen Anspruchs an die Wahrhaftigkeit publik macht.

Der Primeurjahrgang 2011 ist aber in der Spitze wesentlich besser, als man nach den inauguralen Prognosen hätte erwarten dürfen. Sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite reicht das Spektrum meiner Benotung in den Bereich, bei dem man von 100 zwei abzieht.

Die Kernbegriffe, nach denen man den Jahrgang verorten sollte, sind Reife, Selektion, Extraktion und Assemblage. Wir reden weniger über ein Jahr der großen Terroirs als in den letzten drei Jahren, sehr wohl aber über eines des Fleißes, der Beobachtung und des Maßes. 2011 ist im besten Sinne ein leiser Jahrgang, im Gebrüll der Superernten 2009 und 2010 wird er vor allem diejenigen erreichen, für die nicht nur Kraft und Fruchtüberfluss Bordeaux ausmacht, sondern eben auch Frische, Klarheit, Ausgewogenheit und Finesse.

Die Kraftmeier haben meist enttäuscht, weil sie es eben auch in diesem Jahr nicht lassen konnten, quasi noch etwas mehr aus der Potenz herauszupressen. Diejenigen aber, die sich auf das Spiel der freischwebenden Eleganz eingelassen haben, haben Cuvées von animierendem Esprit, der den Bordeaux-Stil aus den Zeiten vor der Klimaerwärmung in höchster Konsequenz repräsentiert, im Werden.

Die Nase vorn haben für mich  Pauillac und Saint-Julien, was man in dem Sinne bedauern mag, als es dort ohnehin wenig Wein zu bürgerlichen Preisen gibt. So disparat wie der Jahrgang insgesamt sich präsentiert, so heterogen sind die Verkostungserlebnisse insbesondere in Pessac-Léognan gewesen. Adstringierende Gaumenverkleber gab es dort ebenso zu spucken wie himmlisch-seidigen Charme im Gewand aromatischer Distinktion.

In Saint-Estèphe ist es Calon Segur gelungen, sich vor Montrose zu schieben, in Margaux gibt es einen genuin konsequenten Palmer, der viel Akklamation verdient.

So wie man das eigentlich jedes Jahr formulieren müsste, gibt es in Saint-Emilion alles von „überaus enttäuschend“ bis „ziemlich genial“. Generell lässt sich formulieren, dass Weine mit höherem Cabernet-Franc-Anteil in diesem Jahr eher vorzuziehen sind.

Das, was über den Erfolg des Jahrgangs entscheiden wird, sind die Preise. Nach den Höhenflügen gehypter Jahrhundertjahrgänge geht es nun darum, eine gut fundierte Preisbasis zu finden, die den Qualitäten ebenso gerecht wird wie dem Wesen der Vorfinanzierung. Geredet wurde in Bordeaux darüber viel, aber immer nur von denen, die nicht wissen können, was wirklich passiert.

Niemand sollte erwarten, dass wir das 2008er-Preisniveau wieder sehen werden. Deutliche Abschläge vom 2009er Niveau darf man aber voraussetzen, sonst wird das Interesse des Marktes nicht ausreichen, um eine erfolgreiche Kampagne zu erleben. Es wird Einzelfälle geben, nämlich dort, wo die Qualitäten in den letzten Jahren so dramatisch zugenommen haben, bei denen eine Neukalibrierung des Preises angemessen ist.

Von der Riege der bürgerlichen Gewächse und ihren Pairs darf man keine große Reduktion erwarten, schließlich sind die Preise hier seit Jahren ziemlich stabil.

So wie sowohl im Weinberg als auch an den Sortiertischen bei der Ernte Selektion der Schlüssel zum Erfolg war, so werden wir in unserer Primeurofferte 2011 eine sehr strenge Auswahl treffen. Nur die Weine, die uns voll zu überzeugen vermochten, werden den Weg in unser Angebot nehmen. Und dort auch nur diejenigen davon, bei denen der Preis vertretbar ist.

So wie es regelmäßig Stimmen gibt, die eigentlich immer vor der Subskription warnen, so möchte ich einen Großteil der professionellen Verkoster als Trendverstärker bezeichnen. Das hat dazu geführt, dass 2008 unterschätzt, 2009 manchmal überschätzt und 2010 wieder meist unterschätzt wurde. Während der letzten Woche habe ich von nicht wenigen Verkostern, die vor ziemlich genau einem Jahr 2010 als deutlich inferior 2009 gegenüber klassifiziert hatten, die Einschätzung vernommen, die nachverkosteten 2010er hätten sich doch wesentlich besser entwickelt, als dies damals zu prognostizieren gewesen wäre.

Im Konzert der wirklich großen Jahrgänge wird dauerhaft sicher kein Platz für 2011 sein. Wohl aber wird er für all diejenigen, die mit dem Kauf vermeintlich günstiger Jahrgänge wie 2001, 2002 und 2004 liebäugeln, die bessere Alternative sein. Der ökonomische Erfolg der letzten Jahre hat viele Châteaux in die einzigartige Lage versetzt, luxuriös penibel zu sein. Die guten Weine sind von einer erbsenzählerischen Reinheit, die 2011 avantgardistisch sein werden lässt.

Und wer verstehen will, warum man auf Château Latour nun mit dem Biodynamischen liebäugelt, der sollte dorthin schauen, wo der Mythos Technik Konkurrenz erfahren hat von äpfellegendem Getier.

Fortsetzung folgt en Detail.

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