Der Spezialist als Hüter der disjunktiven Nische

Das Internet mit seiner virtuellen Ubiquität, das keine klassischen Infrastrukturen benötigt und überdies dergestalt zeitenthoben ist, dass nicht nur die Welt in jedem Punkt ist, sondern eben auch in jedem Zeitpunkt, fordert den Händler als Intermediär in mehrfacher Hinsicht heraus.

Der auch in den Ballungsräumen seit einigen Jahren zu beobachtende Verlust an realer Geschäftspräsenz wird häufig mit dem berauschenden Erfolg endemischer Virtualität durch das Internet und sozusagen personifiziert mit dem Aufstieg des Versandhandelsriesen Amazon erklärt. Der Autor selbst war ebenfalls eine Zeitlang davon überzeugt, dass man dieser unternehmerischen Herausforderung nur durch mimetisches „Gleichtun“ gewachsen sein könne. Nicht selten aber ist, wenn man eine äußere Bedrohung vermutet, der Blick nach innen die erkenntnissteigernde Variante.

Ist der myriadenfach größere Mitbewerber wirklich das eigentliche Problem – oder nicht in der Hauptsache etwas ganz Anderes? Ist bei Produkten, die einer gewissen emotionalen Fürsorge bedürfen, weil ihre Eigenschaften nicht quantifizierbar sind, der Verkaufsbolide gefragt oder nicht eher der Produktflüsterer? Der also, der mit emphatischer Begabung überhaupt erst den Boden für ein Bedürfnis, das auch der lauteste und reichweitenstärkste Marktschrei nicht freisetzt, bereitet, indem er das eben gerade Besondere, das, was die Sache gegenüber anderen Dingen auszeichnet, verständlich und damit dem potientiell Bedürfnisempfänglichen zugänglich macht.

behaartes Wunder: Pulsatilla - Foto Matthias Hilse

behaartes Wunder: Pulsatilla – Foto Matthias Hilse

Sicherlich ist Größe im Bezugsrahmen ökonomischen Effiziensdenkens ein Argument. Sie ist aber nur ein Akzidens und damit in kategorialer Hinsicht kein Vorteil, wenn die Eigenschaften, die eine bestimmte Rolle bestimmen, sich im Fluss der Zeit verändern.

Schon der initial im Herzstück der deutschen Industrie gekeimte Gedanke, Lagerhaltung sei etwas für die Doofen (von den die Infrastruktur paralysierenden Effekten, die einen privatwirtschaftlichen Vorteil durch die Sozialisierung der entsprechenden Begleitumstände in einen Nachteil für die mobilitätsbedürftige Allgemeinheit verkehren, ganz zu schweigen), hat den Handel mit einer sich verstärkenden Atmösphäre ratloser Indifferenz, wenn es etwa darum geht, ein Vorratsvermögen zu finanzieren, konfrontiert.

Was ist aber dann heute ein Händler? Am Beispiel meines eigenen Metiers möchte ich eine kurze Analyse wagen. Der Weinhändler ist, sofern er nicht fester Bestandteil eines größeren Kosmos, sondern unabhängig ist, ein Lagerbetreiber, der in seinen Vorräten auf eigenes Risiko das zusammenträgt, was er für ausreichend distinkt und überdies für marktfähig erachtet. Wenn Sie nun einwenden möchten, das sei doch auch früher so gewesen, so ist dem Nichts zu entgegnen.

Sofern der Händler jedoch eines der prägenden Wesensmerkmale des Internets, die Transparenz, nicht als seinen Feind, sondern als seine Chance begreift – was zugegebenermaßen zunächst verwegen anmutet – dann wird leicht klar, dass er sich eines wichtigen Teils seiner Intermediärsrolle selbst entledigt: Wissen über die Produkte, die er vertreibt, vorzuhalten und weiterzugeben. Denn dieses Wissen kann der Kunde, sofern er über genügend Internetkenntnisse verfügt, sich selbst besorgen. Dass der allgemeine Margenschwund auch etwas hiermit zu tun hat, sei nur am Rande vermutet.

Ein Händler, der sehr breit aufgestellt ist, muss also das Wissen über all seine Produkte, das parallel auch online erzeugerseits verfügbar ist, bereithalten. Er wird im Zweifelsfall Schwierigkeiten haben, mit einem auf ein bestimmtes Gebiet spezialisierten Kunden, wissensmäßig mitzuhalten. Oder andersherum gefragt: warum soll ein Kunde, der sich z.B. mit Bordeauxweinen sehr gut auskennt, zu einem Weinvollsortimenter gehen?

Wer schon fast alles kennt, ist, was Empfehlungen betrifft, eine harte Nuss. Aber auch die härteste Nuss kann geknackt werden. Mit einem dafür spezialisierten Werkzeug.

Nun ist aber das Internet, dort, wo es um Informationen geht, monorelational: es kann nur auf das antworten, wonach es gefragt wurde. Im Sinne von Picassos „ich suche nicht, ich finde“, ist das Internet weder spontan noch kreativ noch inspiriert. Der Kunde, der meint, schon alles zu kennen, wird eher bei einem fachkundigen Händler als online fündig, denn bei der Internetsuche bewegt er sich immer in seinem eigenen Horizont, den er ja aber ohne äußeres Zutun nicht so einfach transzendieren kann. Der Händler, der sich auf seine Sache versteht, kann dies, indem er die disjunktive Nische, die sich aus dem Abgleich des Kundenhorizonts mit seinem eigenen ergibt, identifiziert und zum Bereich des Findens werden lässt. Allerdings muss die disjunktive Nische auf der Seite des Händlers liegen.

Sofern der Gedanke, dass das Spezialisiert-Sein eine zeitliche Komponente aufweist, eine gewisse Stringenz hat, darf man vermuten, dass ein Händler, der sich von Beruf wegen und damit zeitlich intensiv mit einer Sache beschäftigt, dies tiefgründiger kann als ein Kunde, dem für die gleiche Spezialisierung weniger Zeit und auch weniger Mittel zur Verfügung stehen.

In diesem Sinne erscheint es dem Autor ratsam, die präzise Nische als Händler, der eine gewisse Abhängigkeit von der virtuellen Welt zu beklagen hat, eher anzustreben als die Fähigkeit, auf vielen Hochzeiten tanzen zu können.

Der Weg jedenfalls, der internetgenuinen Transparenz z.B. durch – den Vergleich exkludierende – Exklusivitäten zu entkommen, setzt auf eine in minderem Maß ausgeprägte Form der Selbstbestimmung und Orientierungsfähigkeit der Kunden, die gerade den sozialprägenden Möglichkeiten virtueller Verlinkung widerspricht.

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