Von Speeren und Weinbewertungen

Sie werden sich fragen, was das denn bitte soll. Was haben Speerwerfer und Winzer gemein? – Beide haben das Zeug zum großen Wurf.

Ein großer Wurf kann auch ein weiter Wurf sein. Würde man heute noch mit den gleichen Speeren werfen wie weiland Klaus Wolfermann 1972 in München, würde man den Erfolg gar nicht mehr messen können, weil das Stadion zu klein wäre. Man musste also dafür Sorge tragen, dass der moderne Speer schlechtere ballistische Eigenschaften hat, um referenziell bleiben zu können. Man musste den Schwerpunkt verschieben.

Bei numerisch belegten qualitativen Bewertungen, z.B. im 100-Punkte-Schema des amerikanischen Notensystems, besteht immer die Gefahr, die Messlatte neu kalibrieren zu müssen, um dem Problem zu entgehen, über den Maximalwert hinaus zu geraten. Hat man einmal Perfektion definiert, und es passiert, was nicht passieren darf, man braucht den Komparativ zu „perfekt“ – was dann? Der vom bekannten schweizer Journalisten René Gabriel gewählte Weg in die Posse mit 21/20 führt hier sicherlich nicht weiter.

Nach des Großdegustators Urteilsverkündung fällt auf, dass die Explikation der überragenden Güte des Jahrgangs 2010 (…“I have tasted enough wines from 2005, 2009 and 2010 to realize that these may be the three greatest Bordeaux vintages I have tasted in my career.“) in weiten Teilen nicht mit den Punktezuweisungen der einzelnen Weine korrespondiert.

Es lohnt ein Blick zurück: schon 2005 wurde als Jahrhundertjahrgang gefeiert mit der entsprechenden Initialbewertung durch Parker. Die Flaschenbewertung zur Arrivage des Jahrgangs war dann überraschend defensiv. Immer wieder gab es Verschwörungstheorien derart, dass er mit seinen Bewertungen Politik machen wolle im Sinne von Wind-aus-den-Segeln-Nehmen oder auch umgekehrt. Mir scheint etwas anderes plausibel. Der Klimawandel hat uns im letzten Jahrzehnt mit einer ungewöhnlichen Anhäufung von äußerst beachtlichen Ernten beschenkt. Ruft man einen Jahrhundertjahrgang aus, steht man im Falle der Duplizität der Ereignisse vor dem Problem, schon wieder zum Megaphon greifen zu müssen, bevor die letzten Lobeshymnen auf die letzte Wunderernte verhallt sind. Mehr oder minder instinktiv führt das zu einer Inflationierung der Bewertungen, denn die Ratio vermutet, den Ermüdungserscheinungen aus Überdruss (nach dem Motto: ach, schon wieder…) durch Attraktivitäszuwachs (immer höhere Bewertungen) entgegenwirken zu können.

Etwas anderes kommt hinzu: was drückt die Bewertung aus? Eine Weinbewertung ist quasi ein futuristischer Akt und als solcher eine Instanz mit Verifikationspotential. Im Idealfall versorgt die Bewertung den Leser mit der Einschätzung, wie der Wein bei Trinkreife einzustufen sei. Ein junger Wein, besonders von den großen Terroirs, ist immer und immanent Potenz. Wenn der Verkoster aber den aktuellen Status bewertet, wird das recht signifikant abweichen von dem, was dereinst daraus wird.

Denkt man sich die beiden Extremmöglichkeiten, Wein zu beurteilen, nämlich im Jetztzustand einerseits und auf dem Höhepunkt der Reife andererseits, als Punkte auf einer Geraden, dann begründet die Distanz zwischen diesen beiden Punkten eine Art Unschärfe in der Auslegung der maßgeblichen Meinung des Verkosters. Und da nicht anzunehmen ist, dass ein Verkoster immer vom gleichen Punkt auf der Gerade aus die Weine eines Jahrgangs ins Visier nimmt, könnte man hier in Anlehung an eine physikalische Bezeichnung von der degustatorischen Unschärferelation sprechen.

Um auf den Speerwurf zurückzukommen: es scheint mir zumindest Wert, eine Betrachtung darüber, ob der Großdegustator eine Verschiebung des Schwerpunkts im Rahmen der oben skizzierten Unschärfe vorgenommen hat, anzustellen. Identisch große Würfe landen nicht immer im gleichen Ziel.

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