Alter Ego einmal anders

Um die gegenwärtigen Diskussionen um die Beurteilung des Jahrgangs 2010 besser zu verstehen, ist ein Blick 2 Jahre zurück vielleicht lohnend. Die Gemengelage, um sie kurz zu umreissen, bestand aus aufgezehrtem Vertrauen im Handel, bedingt durch die Folgen der Lehman-Pleite und  voreiliger Exegese von Klimadaten aus Bordeaux, wie sie heute jeder, der weiss, wie man Google bedient, zelebrieren kann.

Ein in der Spitze zwar nicht spektakulärer, aber äußerst gelungener Jahrgang wurde von vielen professionellen Auguren als für „zu leicht“ befunden, und damit mit einem Menetekel befrachtet, das selbst des Grossdegustators Bewertungen höchtspersönlich als im besten Fall „alterssenil“ erscheinen ließ.

Meist sind es die gleichen Bewerter, die nun ihr ursprüngliches Verdikt in solche Formulierungen umwinden wie die, dass die Weine sich eben wesentlich besser entwickeln, als man dies aus den Fassmustern vermuten konnte.

Dann kam der nächste Jahrgang, und auch jedem, der gar nicht weiss, wie man jungen Wein verkostet, musste aufgrund der dominant vorherrschenden Meinung, wie sie das Internet abundant liefert, klar sein, dass alles, ausser einem dicken Lob für 2009 nicht opportun sein würde.

Betrachtet man es vom Aspekt des eingegangenen Risikos aus, war angeraten, 2008 zu diskreditieren und 2009 zu glorifizieren. Es gab wenige Kritiker, die in 2008 ein Risiko eingingen….

2010 machte es von Anfang an allen Beteiligten schwer. Es fing damit an, dass die Informationen, die für den Vorgängerjahrgang nur so sprudelten aus Bordeaux, nun kaum zu vernehmen waren. Man hörte früh von einer sehr gelungenen Ernte, aber dem direkten Vergleich mit 2009 ging man meist aus dem Weg. Fast hatte man den Eindruck, den Winzern sei es peinlich, schon wieder auf einen großen Jahrgang zu verweisen. Weil erfahrungsgemäß die Sonnenjahrgänge wie 2000, 2005 und 2009 viel Schatten auf ihre Nachfolger werfen, kam es mancherorts vielleicht dem Umstand der Kapitulation gleich, das, was nicht sein darf, auch nicht zu formulieren.

Erschwerend für 2010 kommt noch hinzu, dass rubens’sche Rundungen eben viel mehr Halt bieten als Feiningers Geradlinigkeit. Opulente Fülle ist semantisch und sensorisch wesentlich leichter zu erfassen als distinkte Expressivität. Dort, wo ein Weniger an Frucht ein Wesens-Mehr ausdrückt,  oder ein Mehr an Säure mit dem Mehr an Extrakt und Alkohol bestens korrespondiert, kann man das eigentlich Vorzügliche als defizitär ansehen. So kann man gerade eben die Genese babylonischer Exegese hinsichtlich des jüngsten Bordeaux-Jahrgangs erleben.

Hüten sollte man sich jedoch, durch einfaches Nebeneinanderstellen numerischer Größen voreilige Schlüsse zu ziehen. So wie es nicht ausreicht, Niederschlagsmengen und Sonnenstunden zu addieren, um die Größe eines Jahrgangs zu erraten, ist es nicht hinreichend, Säurewerte isoliert in einer Art Ahnengalerie zu präsentieren und das schiere Wert-Optimum einer einzigen Größe als Beweis für ein vermutetes Defizit zu missbrauchen. Das Geflecht an intrinsischen Bestimmungskomponenten beim Werden von Wein erfordert weit mehr als die Kunst einfacher komparativer Schau.

Nach meiner Auffassung hat man mit der Namensgebung des Zweitweins auf Château Palmer vor vielen Jahren das Wesen des Jahrgangspaars 2009/2010 bestens erfasst: ALTER EGO

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