Bordeaux 2018 und die Renaissance des Stammelns

Einem Weinrezensenten geht es zunächst auch nicht anders als einem Musik- oder Literaturkritiker. Denn hier wie dort gilt es, sinnlich Wahrgenommenes nach einigermaßen allgemeingültigen Kriterien subjektiv zu beschreiben und in Form eines Urteils Empfehlungen oder Ratschläge zur Distanzierung auszusprechen.

Dem Weinkritiker jedoch, der eigentlich auch dem Gebot „Du sollst Sinnlich-Rezeptives nicht Quantifizieren“ Folge leisten sollte, ist seit der Reconquista Europas durch die Inch-und-Gallonenbarden unter dem Oberbefehl des späteren Hegemon über die weltweite Weinkritik, Robert Parker, als die in der alten Welt gebräuchliche Stammelei in Pünktchen und Sternchen dem Benotungsschema amerikanischer Erziehungseinrichtungen weichen musste, um ausgerechnet dort, wo man das metrische System am allerwenigsten gebrauchen kann, um sich mitzuteilen, eine folgenreiche Kolonialisierung derart widerfahren, seinen Beurteilungsobjekten feste Plätze in der Sphäre quantitativer Verortung zuweisen zu müssen.

Andererseits: wie soll das gehen, bei einem solchen Großereignis wie den Primeurverkostungen in Bordeaux, während der alljährlich von der spuckenden Zunft Hunderte von Faßmustern zu beurteilen sind, Ordnung anders zu stiften als in der Kartographierung nach Punkten? Denn während der Weinkritiker während der Primeurs etwa 100 Muster pro Tag zu begutachten hat, würde man Gleiches weder von den Ton- noch von den Buchstabenrezensenten erwarten – alleine schon, weil es unmöglich ist.

Wer käme etwa auf die Idee, die rezenten Einspielungen der Goldberg-Variationen von Levit und Tharaud mit Punkten zu bewerten und in numerischer Attribution in Beziehung zur Benchmark aus dem Jahr 1955 zu setzen? Wäre hier nicht der kurze Atem der Notation eher dem Eintauchen in die große Seele der bachschen Variationsmystik, die natürlich sowohl unterschiedliche Interpretationen zuläßt als auch variierende Resonanzen beim Hörer auszulösen vermag, hinderlich in Sinne vorauseilender statischer Fixierung?

Geht man in die Zeit zurück, als Parker der Coup gelang, den metrischen Natives in Europa ihr ureigenstes Werkzeug, das auf Wein anzuwenden sie sich aber versagt hatten, zurückzubringen, dann fällt Folgendes auf: die Disparität zwischen der historischen Einordnung und der seinerzeitigen Qualität der Weine (wenn man hier für das Medoc die Klassifikation von 1855 zugrunde legt) war so gravierend, dass es schlicht eines Ordnungsschemas bedurfte, um den Konsumenten sicher durch das von bitterer Mediokrität flankierte Feld des Bordeauxangebots zu führen.

Schaut man heute, knapp 40 Jahre nach der parkerschen Rückeroberung der Deutungshoheit in die Sphäre des quantitativ Bestimmbaren, auf „Bordeaux en Primeur“, so fällt zunächst eines auf. Von den ca. 10.000 Weingütern in Bordeaux schaffen es aktuell nur etwa 600, über den „Place de Bordeaux“ und damit mithin in Subskription verfügbar zu sein. Sieht man von den paar Ausnahmen um Chateau Latour herum ab, deren Abwesenheit selbstinszeniert ist, ist die Handelbarkeit eines Weins alleine schon Merkmal seiner Güte. Niemand braucht Bedenken zu haben, hier einen qualitativ minderwertigen Wein „untergejubelt“ zu bekommen.

Mit der Ökonomisierug aller Lebensbereiche und dem damit einhergehenden Bewusstsein für den Wert von Marken gibt es aktuell in Bordeaux z.B. keinen „Grand Cru Classé en 1855“ mehr, dessen neuerliche Ernteauswürfe nicht zumindest den Grad seiner Klassifierung wiederspiegelten. Oftmals, wie beispielsweise bei Lynch Bages und Pontet Canet, liegt die Qualität deutlich über dem Adelsrang.

Wenn in der neuen Welt jede neue Ernte zum Testimonial für die Marke wird, dürfte der Erzeuger so lange, wie er sich das leisten kann, den bestmöglichen Wein abfüllen. Denn der Wert der Marke sichert ihm gleichbleibende Nachfrage zu.

Wer heute z.B. Montrose, Haut Bailly, die Leovilles et al. kauft, kann sicher sein, das jeweils Bestmögliche in der Flasche zu haben. Im Gleichlauf der Ergebnisse und in der Prognostizierbarkeit der Qualitäten wird die Aufspreizung der Kritikerschar, wie man es seit dem Rückzug von Robert Parker beobachten kann, obsolet. Denn: haben Sie schon einmal versucht, einer Verkostungsnotiz von Jancis Robinson, Neal Martin, James Suckling oder auch von Quarin und Leve einen bestimmten Wein zuzuordnen? Ja, weiß man denn überhaupt, ob nur ein Fassmuster beschrieben wird oder Anhaltspunkte für das Erscheinungsbild des Weins in der Reife zu finden sind?

In diesem Sinn könnte der Jahrgang 2018, dem der kleine Makel anhaftet, durch Sprachermüdung und der großzügigen Zuweisung von Elativen und Superlativen in den Vorjahren, nicht hinreichend Distinktionsreserven auf sich ziehen zu können, den Weg weisen zu einer Renaissance des Stammelns in Pünktchen und Sternchen – denn etwas anderes sind die meisten Rezensionstexte ohnehin nicht.

Wüsste ich nicht um die Irrealität meiner Gedanken, würde ich meinen, die Bühne der großen Weine aus dem Jahrgang 2018 sollte ein Ereignisraum semantischer Parität mit der Brillanz der besten Weine sein. Wenn aber dem großen Wurf die Ausprägung verwehrt bleibt, dann ist der Inhalt des Markenversprechens Eins mit den 5 Sternchen, die man weiland für die gleiche Aussage bemüht hat.

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