Bordeaux 2013

In der Appellation Pauillac, Foto © Matthias Hilse

In der Appellation Pauillac, Foto © Matthias Hilse

Seit es solche verfeinerten Meinungsbildner wie Twitter und Facebook auf der Überholspur des Internets gibt, ist gut zu beobachten, wie ein Polarisierungsprozess in einen Zustand kontiniuierlicher Beschleunigung gekommen ist, der nur noch zwischen schwarz und weiß oszilliert, aber all die Grautöne dazwischen, das Feld potentieller Distinktionstiefe, achtlos passiert.

So ist es nicht verwunderlich, dass in einem Meinungsbildungsprozeß schon zu einem Zeitpunkt, an dem das Gros der Meinungsträger noch gar keinen eigenen Zugang zum Gegenstand des Urteils hat, sich schon ein bedeutendes stimmungshegemoniales Moment aufgebaut hat.

Nur eine Form der Fremdmeinungsdiät, die an Ignoranz grenzt, scheint dem Autor ein angemessener Zugang zu sein, wenn es darum geht, die Verantwortung über die eigene Deutungshoheit eben nicht in die ubiquitäre Meinungsmasse zu externalisieren, sondern seinem Publikum, den Kunden, eine genuin eigene und autonome Interpretation des Sachverhalts zur Verfügung zu stellen.

Was die Primeurs in Bordeaux betrifft, ist man als Verkoster gut beraten, die Kalibrierung der Proben mit den Ergebnissen aus den großen Terroirs vorzunehmen. In den letzten Jahren hat sich diese Praxis für mich als äußerst sinnvoll erwiesen.

Nimmt man die Ergebnisse der 20 Topweine, wird man schwerlich ernsthaft davon reden können, dass die Weine keinen Aplomb hätten oder gar schlecht seien. Nimmt man die schwächsten Weine, bedauert man manchmal, das Glas an den Mund geführt zu haben. Ginge es zunächst um eine allgemeine Einordnung des Jahrgangs, müsste man neben einigen grossen (aber keinen perfekten) Weinen nicht wenige, die die Bewertungsskala in neue Dimensionen nach unten erweitern, erwähnen.

Orangerie von Château Margaux, Foto © Matthias Hilse

Orangerie von Château Margaux, Foto © Matthias Hilse

In der Regel werden ampelographische oder geographische Anhaltspunkte gesucht, unter die sich die Beobachtungen subsumieren lassen, etwa in der Form: „je weiter südlich im Médoc, desto mediokrer der Merlot…“. Dass dies schwerlich so sein kann, wird musterhaft in der Appellation Margaux deutlich: die beiden teuersten Weine sind die besten, liegen aber in ihrer Interpretation von Margaux diametral auseinander: Château Margaux mit einer Eleganz, Klasse und Distinktion zeigenden Cabernet-Interpretation, Château Palmer mit einem merlotdominanten Rasse- und Espritsynonym.

Château Palmer, Foto © Matthias Hilse

Château Palmer, Foto © Matthias Hilse

Nimmt man das Bukett solcher Weine wie Cantenac Brown, Rauzan-Segla oder auch Mille Roses, wird deutlich, welchen olfaktorischen Typizitätsgewinn die Askese in den Tannin- und Alkoholwerten mit sich bringt. Wer dem Argument nicht abträglich ist, dass Wein nicht nur Trauben-, sondern eben auch Terroirexpression verwirklicht, findet möglicherweise Gefallen daran, die Koinzidenz des Wiederauflebens einer Stilistik, der in der Prä-Parker-Ära die Akklamation einer klassisch orientierten Bordeauxfangemeinde sicher war, zum Zeitpunkt des Entschwindens des Grossdegustators und Blockbusterapologeten, zu beobachten.

Alfred Tesseron, Foto © Matthias Hilse

Alfred Tesseron, Foto © Matthias Hilse

Dass mit Pontet-Canet der beste Wein des Jahrgangs ein biodynamischer Riese ist, wird Bordeaux in den nächsten Jahren nachhaltig verändern. Denn es sind damit einige Dinge offensichtlich geworden, die die Schar der Innovationsaversen nicht länger ignorieren können, etwa die Optimierung im Reifeverhalten, bodenentlastungsbedingte aromatische Amplitudenvertiefung und terroiroptimale Assemblage.

Es wäre jedoch unseriös, davon zu sprechen, dass biologisch/biodynamische Weine generell in diesem Jahr besonders herausragten. Der Mille Roses aus Margaux, der mit diesem Jahrgang zertifiziert ist, zeigt aber sehr schön, welch wunderbare aromatische Verfeinerung aber auch in einem Budgetbereich, der einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich ist, möglich ist.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: ja, es gibt unreife Weine – und es gibt wie immer diejenigen, die im Keller das aufzuholen versucht haben, was sie vorher im Weinberg (leichtfertig?) vernachlässigt hatten. Es gab Muster, die die Frage in den Raum tragen, warum niemand ihre Demaskierung zu verhindern suchte.

Es gibt sie aber, die sehr guten, alkoholschlanken, tanninfeinen, brillantfruchtigen Exemplare, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient haben, weil sie zeigen, wie verdammt elegant, fein, balanciert und ausgewogen Bordeaux gerade in Jahren, die das Kreuz des Mittelmaßes tragen,  sein kann.

Château Marquis de Terme, Foto © Matthias Hilse

Château Marquis de Terme, Foto © Matthias Hilse

A continuer…

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