Wo vorne und oben ist: Château Pontet-Canet und Château Haut-Bailly

„Heute ist aber wieder gar nichts los gewesen!“ So oder so ähnlich habe ich einige enttäuschte Resümes gehört über einen Tag, von dem man sich eine regelrechte Preisveröffentlichungsexplosion aus Bordeaux erhofft hatte.

Diese Explosion ist zwar ausgeblieben, das „Alternativprogramm“ mit den Preisen für die Zweitweine der Châteaux Pontet-Canet (Hauts de Pontet) und Haut-Bailly (Parde de Haut-Bailly) hat aber, vielleicht erst auf den zweiten Blick, eine mindestens ebenso eruptive Potenz. In einer fast schon lethargiegeladenen Atmosphäre, in der sich kaum eines der wichtigen Châteaux aus der Deckung traut, haben gerade die beiden Weingüter vom linken Ufer, die aus unterschiedlichen Gründen in keine Schublade passen, konsequent den nächsten Schritt zu ihrer jeweiligen Individuation getan. Dass dies fast zeitgleich geschehen ist, könnte Zufall sein, das glaube ich aber nicht.

Die seit einigen Jahren unabhängigsten und unbeirrbar ihren Weg voranschreitenden Weingüter, der sechste Premier Cru Classé aus Pauillac und der erste Supersecond ausserhalb des Médoc, haben in einer Art konzertierter Aktion den Preisbogen für alles Wichtige, was jetzt noch kommt, vorskizziert: zwischen etwa 7 und 25% werden die renommiertesten der Crus ihre Preise anheben. Dieser Rahmen wurde heute gesetzt.

Fast kommt mir die Situation ein wenig vor wie beim Ringen um ein Nachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll: alle wissen, dass etwas passieren muss, aber keiner bewegt sich. Wenn Robert Parker jr. vor ein paar Tagen in seinem Forum nach einem Visionär rief – heute haben wir gleich zwei davon erlebt, aber ganz anders als er das meint.

Pontet Canet geht mit einer solchen Energie und so zielstrebig voran, dass niemand dieses Tempo mitgehen kann. Es bedarf einer so weisen und weitsichtigen Persönlichkeit, nicht dagegenhalten zu wollen, wo selbst Eklektizismus sinnlos ist, dass man sie eigentlich nur im femininen Teil der Châteauelite finden kann. Veronique Sanders ist weitsichtig und unabhängig genug, das Rollenpotential des Rahmensetzers richtig einzuschätzen und damit die Chuzpe zu zeigen, deren es jetzt bedarf, der Kampagne neue Spannungsattacken einzuhauchen.

Um Ihnen zu verdeutlichen, was ich meine, möchte ich auf eine ganzseitige Anzeige im WEINWISSER 5/2011 hinweisen: „Les ***** 5 born under a lucky star“. Man sieht aber nur 4 Weingüter mit Ihren Patriarchen: Canon-La-Gaffelière, Gazin, Smith Haut Lafitte und Branaire Ducru. Der fünfte lucky star ist Pontet-Canet. Kennen Sie jemanden, der es sich erlauben kann, mit seiner Abwesenheit zu werben? Wie kann man besser die eigene, den üblichen Betrieb transzendierende Vorreiterrolle verdeutlichen?

Während viele Auguren noch über den spärlichen Zeichen der Kampagne brüten, ist heute alles gesagt worden. Es beschleicht mich der Eindruck,  dass nur die Fed unter Alan Greenspan das wohldosierte Nichts besser in Szene setzen konnte.

Während man den attentiven Châteaux nicht zu Unrecht vorwirft, die Stimmung der asiatischen Kundschaft, die bei der Vinexpo in knapp zwei Wochen überfallartig die Messehallen in Bordeaux belagern werden, „testen“ zu wollen, setzen Alfred und Mélanie Tesseron und Veronique Sanders das Zeichen geistiger Unabhängigkeit. Nicht die ferne Kundschaft, sondern das eigene Selbstwertgefühl bestimmen den Preis.

Die Parallelität zwischen Pontet-Canet und Haut-Bailly ist bei der Beobachtung, dass es im ersten Fall keinen günstigeren Premier Cru Classé und mithin perfekten Wein gibt und im zweiten keinen günstigeren Supersecond, noch lange nicht am Ende, aber das ist eine andere Geschichte für ein andermal.

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