Bordeaux 2010 – der polarisierende Jahrgang der Dialektik der Perfektion

Auch wenn es dem Wortsinn nicht widerspräche, kontinuierlich Jahrhundertjahrgänge auszurufen, würde ein dauerhaft exzessives Qualitätsniveau vermuten lassen, dass etwas mit der Kalibrierung nicht stimmt. Schon früh ist die dem bereits während der Ernte als Jahrhundertereignis gefeierten Jahrgang 2009 nachgefolgte Ernte 2010 in den Ruf geraten, als möglicher Zwilling auch nicht von schlechten Eltern zu sein.

In der Nachfolgezeit einer weltweiten Banken- und Finanzturbulenz ist aber das Wort Credibilität selbst in eine Vertrauenskrise geraten, dergestalt, dass superlative Duplizität ihrem Wesen nach in Frage gestellt wird.

Wenn überdies einem kolossal attributsreichen Jahrgang, bei dem es neben viel Frucht auch viel Tannin, Extrakt und Säure zu interpretieren gilt, eine „Vorernte“ mit der unerträglichen Leichtigkeit seduktiver Frucht gegenübersteht, ist die Apologetik vorgezeichnet.

Fast möchte ich von einer babylonischen Verkostungsverwirrung sprechen, die den Bordeaux-Jahrgang 2010, der an Reinheit und Klarheit alles aus der Ahnengalerie mythischer Jahrgänge überstrahlen wird, in  den Nebel der Distinktionslosigkeit zieht

Um es deutlich zu formulieren: am Bild, dass 2009 der primus inter pares der großen Jahrgänge des letzten Jahrzehnts ist und überdies äonische Qualitäten besitzt, hat sich nichts geändert. Auch gebührt der Lorbeer der Brillanz in der Breite 2009.

Wenn es aber um die großen Terroirs geht, dann ist 2010 zumindest ebenbürtig – ich persönlich halte ihn in der Spitze für das Alter Ego von 2009. Unter der Annahme, dass, wenn in der sinnlichen Rezeption das Empfinden von Perfektion möglich ist, Vollkommenheit nicht dem Postulat der Identität unterliegt, ist 2010 die dialektische Wiederkehr der 2009er Perfektion.

Camouflage wäre wohl der treffendste Begriff für das Verbergen der Exzellenz im Verwirrspiel überbordender Attributsträger. Nicht wenige Verkoster haben sich auf der Suche nach der scheinbaren Defizienz des Jahrgangs auf einen Holzweg begeben und dort einen Mangel ausgemacht, wo exorbitant-komplexe Fülle zu finden wäre. Vielleicht ist das Aufblättern von Pontet-Canet in den Verkosterannalen hilfreich, interpretatorische Irrwege zu erkennen. Nicht selten wurde noch vor kurzem das als qualitativ minderwertig prognostiziert, was jetzt als große Reüssite gefeiert wird.

Fast hat es den Anschein, als ob sich der Jahrgang 2010 für seine exzellente Klasse legitimieren müsste. Niemand würde dies ohne das Wissen um 2009 erwarten, denn schon ein Blick auf die klimatischen Rahmenbedingungen genügt, das intrinsische Potential von 2010 zu erkennen. Weil aber das maximale Quantum an Akklamation schon für 2009 verbraucht scheint, erachten viele die faktische qualitative Duplizität – bei kompletter stilistischer Disparität – als äußerst suspekt. Im Vordergrund steht dabei die Befürchtung, einem potemkinschen Marketingbluff aufzusitzen.

Wie aber läßt sich ein Jahrgang wie 2010 verstehen? Das naturgemäß iterative Rebenwachstum wird von zyklischen Klimaprozessen begleitet und bedingt. Diese Prozesse, etwa Sonnenscheindauer, Tages- und Nachttemperaturen und Niederschläge, können sehr differenziert ausgeprägt sein und dabei unterschiedliche Veränderungsformen vom einen zum anderen Extrem durchlaufen. So wie z.B. eine stetige Veränderung von „trocken“ bis „nass“ denkbar ist, ist auch der sprunghafte Aggregatswechsel möglich.

Versteht man das Klima als die soziale Prägung der Rebe und den Boden als ihre genetische, dann wurde der Jahrgang 2010 erratisch und dehydriert sozialisiert: in der pränatalen Winterphase war es zunächst sehr nass und dann sehr kalt, so dass es fast schien, man würde es mit einem Spätzünder zu tun haben. April und Mai waren sehr trocken, Ende Mai kam dann ein Wärmeschub, doch die Blüten, die sich daraufhin bildeten, fielen oftmals der erneut einsetzenden Kälte zum Opfer und verrieselten. Diese natürliche Ertragsbeschränkung traf dabei überwiegend die Merlots. Der Juni wiederum war weitaus niederschlagsreicher als üblich, so dass die Wasserdepots zwar spät, aber immerhin deutlich aufgefüllt wurden. Der Sommer war extrem trocken, aber nicht tagheiß, und nachtkühl, so dass die Trauben ihre Frische behielten und feine Säurewerte entwickelten. Mit einem Drittel der üblichen Niederschlagsmenge war der Sommer fast genauso trocken wie in 2005. Der resultierende Trockenstreß erlahmte das Wachstum des Blattwerks, so dass die Reben sich ganz auf den Reifungsprozeß der Frucht konzentrierte. Bei traumhaftem Hochdruckwetter konnte die Ernte bei voller Reife in aller Ruhe mit der nötigen Selektion durchgeführt werden.

Aufgrund der Dehydrierung hatte das Lesegut sehr hohe Zuckerwerte und die kleinen, dickbeerigen vollreifen Trauben entsprechend Gerbstoffe. Bedingt durch die sehr kühlen Augustnächte waren auch die Säurewerte erhöht.

Um die einzelnen Attributsträger in einem harmonischen, ausbalancierten Wein zusammenzuführen, war eine äußerst behutsame Extraktion gefragt. Weniger war hier in jedem Fall mehr, denn es galt, die Kraft zu bändigen anstatt sie weiter zu verdichten.

Bei fast allen großen Terroirs, eher mehr auf der linken als auf der rechten Seite, sind äußerst beachtliche, brillante Weine von großer Rasse und beeindruckender Definition entstanden, die die Perfektion der 2009er Ernte dialektisch widerhallen lassen.

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