Alter Ego einmal anders oder: wo der Schatten nicht hinreicht

Über den Roc de Cambes 2015

Es gibt die Momente innerer Niedergeschlagenheit, wenn andere die eigene Wahrnehmung duplizieren und dadurch der vormals priviligierte Blick zum Allgemeingut wird. Was waren das für Zeiten, als Francois Mitjaville einen Tertre Roteboeuf bereitete, den man unbeschwert grossartig finden konnte, weil es als sicher galt, der Hegemon aller Degustatoren würde sich schon nicht erniedrigen, ihn in Canossa zu verkosten und der Erzeuger sich nicht dazu herablassen, seinen Wein in der Konfektion einer Probe sonstwohin zu senden.

FMitjaville

So kam es, dass einer der grossartigsten Saint-Emilions, stilistisch ein Solitär und aromatisch eine Augenweide sonder Gleichen, weitgehend unter dem Radar einer nur an den Exegesen des Meisters interessierten Öffentlichkeit bleiben konnte.

Neil Martin wiederum, der Alleinerbe in Sachen Bordeauxhermeneutik, hat intuitiv erkannt, dass er andere Marotten als sein übergroßer Vorgänger entwickeln muss. Dass er nun den Tertre Roteboeuf dorthin verortet, wo er genuin auch hingehört, zeigt die Grösse seiner Verkosterseele.

Glücklicherweise unverständlich bleibt dabei, dass die andere mitjavill’sche Kreation, der Roc de Cambes – jener Côte de Bourg, der schon allein durch die Auslassung solcher Präfixe wie „Château“, „Clos“ oder auch „Domaine“ signalisiert, ein Ausrufezeichen zu sein – nicht den gleichen degustatorischen Zuspruch, ja noch nicht einmal eine ansatzweise ähnliche Aufmerksamkeit bekommen hat, wie der Tertre Roteboeuf.

So erwächst aus einem Unglück minderer Ausprägung ein anderes Glück, das darin liegt, für etwas anzustehen, das keine besonderen rezeptiven Begehrlichkeiten erfahren hat.

Wer je erfahren möchte, welcher Wein in der Lage ist, die Intrinsik einer ganzen Region in der Ausprägung seines Wesens zu transzendieren, wer erfahren möchte, zu welchen sensorischen Höhen die Chuzpe eines Einzelnen, dem das „sich-Scheren-um-die-Gunst-der-Anderen“ wesensfremd ist, führen kann, dem sei dringend angeraten, den Roc de Cambes einmal in die Obhut seiner eigenen Sorge zu nehmen.

Roc de Cambes, Cotes de Bourg

Roc de Cambes, Cotes de Bourg

In sicher ungewohnter Semantik könnte man den Roc de Cambes 2015 folgendermaßen beschreiben:

Der Roc de Cambes 2015 ist angewandte Philosophie und ein lebendiges Zeugnis dafür, dass Oxymora trinkbar sind. Denn wie kein anderer Wein macht er die cusanische „coincidentia oppositorum“, also jene höhere Synthese rational zu vermutender Opposition in der Vernunft sinnlich erfahrbar. Oder anders ausgedrückt: wenn eine Faßprobe zugleich der Inbegriff kristalliner Klarheit und ebenso der Ausbund expressiver Aromenfülle, sowohl ein Inkarnat von Reinheit als auch eine Metapher für abundante Opulenz ist, dann dringt sie in den Grenzbereich sinnlicher Rezeptionsfähigkeit vor.

Dass die einzelnen Verkoster hier quasi in transzendentaler Wendigkeit rational-Disparates in noetische Einheit zu transponieren haben, macht die ungemeine Herausforderung dieses Sphärenweins des intraningenten Querkopfs Francois Mitjaville aus. Für manchen ist er eben nur ein Wein, wie es ihn zu Dutzenden im Libournais gibt, für andere ist der Roc de Cambes ein Unikat hors norme, weil er in die entlegendsten Winkel organoleptischer Dechiffrierkunst vordringt und immer wieder für stupende Verblüffung sorgt.

Und wem das alles zu kompliziert ist: wer seine Seele in einem Meer von Aromen mit frischestrotzenden Aufwallungen wollüstig saftiger, verführerisch extraktsaturierter, eminent eleganter Frucht baden möchte, dem sei eine „Roc-de-Cambes-2015-Kur“ empfohlen.

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